
Exposé
Das Buch erscheint im 3. Quartal 2025. Auf dieser Seite stelle ich die Inhalte vor.
Einführung
In ihrem Bericht aus dem Jahr 2015 mit dem Titel „Improving Diagnosis in Health Care“ stellte die amerikanische National Academy of Medicine fest, dass die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens mindestens von einem diagnostischen Fehler betroffen sind – manchmal mit gravierenden Folgen [1]. Sonja Hochmeister ist einer dieser Menschen. Ihr Arzt stellte in der siebten Schwangerschaftswoche eine sogenannte Windmole fest. D. h., es bildete sich aus der befruchteten Eizelle kein Embryo in der Frucht-höhle. Da es zu starken Blutungen kommen könne, empfahl ihr Arzt eine medikamentöse Abtreibung mit Mifegyne. Sie wartete noch ab. Einige Wochen später forderte Sie einen zweiten Ultraschall mit dem Hinweis, der HCG Wert sei gestiegen. Ihr Arzt meinte, dass könne auch bei einer Windmole passieren, verweigerte ihr den Ultraschall und empfahl ihr, sie solle nicht mehr so lange warten (mit Mifegyne). In der 39. Schwangerschaftswoche brachte sie ein gesundes Kind (3100 g / 51 cm) zur Welt.
Die falsche Diagnose lag nicht daran, dass sie an einen jungen oder unerfahrenen Arzt geraten war. Im Gegenteil, ihr Gynäkologe war seit langem in leitender Position tätig. Wenn es nicht die fachliche Kompetenz ist, die zu solch einem gravierenden Fehlern führt, was ist es dann? Eine Antwort findet man beim Patientensicherheitsnetzwerk des US Gesundheitsministeriums. Auf dessen Website kann man lesen, dass etwa 75% der Diagnosefehler eine kognitive Komponente haben [2].
Kognitive Verzerrungen bei der Bewertung von Informationen und beim Treffen von Entscheidungen ist das Spezialgebiet von Peter Jungblut. Im Rahmen von Workshops diskutiert er seit vielen Jahren mit Ärztinnen und Ärzten anhand von konkreten Fallbeispielen, wie dem von Sonja Hochmeister, potenzielle Urteilsfehler und zeigt, wie man Urteilsfehler beim Treffen von Entscheidungen vermeiden kann.
Literatur zu diesem Thema findet man im deutschsprachigen Raum kaum. Deshalb haben sich beide entschieden, diesen Ratgeber zu schreiben. Beide haben jedoch die Erfahrung gemacht, wie schwer sich viele Ärztinnen und Ärzte damit tun, zu akzeptieren, wie leicht man sich irren kann. Deshalb ist das Buch in einer auch für Patienten verständlichen Sprache geschrieben.
Kognitive Verzerrungen als Ursache falscher Diagnosen.
Die Schätzungen über die Anzahl falscher Diagnosen gehen weit auseinander. Eine der interessantesten Arbeiten dazu stammt von den amerikanischen Medizinern Eta Berner und Mark Graber [3]. Nach der Auswertung zahlreicher Studien über falsche Diagnosen schwankt die Häufigkeit nach ihren Angaben, je nach Fachbereich, zwischen 2 und 12%. Der amerikanische Psychologe Arthur Elstein, der sich sein gesamtes Forscherleben mit der Frage auseinandergesetzt hat, wie Ärzte Entscheidungen treffen, schätzt die Zahl der Fehldiagnosen gar auf 15% [4].
Eine Arbeitsgruppe des Johns Hopkins Armstrong Institute for Patient Safety and Quality um den Mediziner David Newman-Toker wollte herausfinden, bei welchen Indikationen die häufigsten Fehldiagnosen gestellt werden. Die Daten für ihre Analyse stammen aus der Datenbank des Comparative Benchmarking System (CBS) der Controlled Risk Insurance Company (CRICO), die knapp 30% aller US-amerikanischen Arzthaftungsansprüche enthält.
Von 7.379 schwerwiegenden Fällen (53% dieser Fehldiagnosen führten zum Tod der Patienten und Patientinnen) fielen die meisten auf die drei Indikationsgebiete Krebserkrankungen, Gefäßerkrankungen und Infektionen. Die Grafik zeigt zusätzlich die 5 häufigsten Erkrankungen jeder Indikation.

Das Stellen einer Diagnose ist ein Entscheidungsprozess. Daraus folgt, wenn ein Arzt eine Fehldiagnose stellt, ist auf dem Weg zur Diagnoseentscheidung etwas schiefgelaufen. Deshalb lohnt sich ein Blick auf diesen Prozess. Der bereits erwähnte Mark Graber sagt dazu folgendes [5]:
Die medizinische Diagnose ist ein spezielles Beispiel für die Entscheidungsfindung unter Unsicherheit. In vertrauten Kontexten treffen Kliniker Entscheidungen ohne große bewusste Überlegungen, und medizinische Experten arbeiten routinemäßig auf diese Weise. Kliniker verwenden in der Regel eine Reihe von Heuristiken oder Faustregeln, um angesichts begrenzter Zeit oder Daten effizient zu Entscheidungen zu gelangen.
So werden beispielsweise Diagnosen anhand von Heuristiken erstellt, die auf Repräsentativität, Verfügbarkeit oder Extrapolation beruhen. Die Leistungsfähigkeit von Heuristiken ist enorm. Sie ermöglichen es Klinikern, die diagnostischen Herausforderungen des Alltags zu meistern und in Echtzeit wirksame und in der Regel genaue Entscheidungen zu treffen, wenn eine mühsame Berechnung von Wahrscheinlichkeiten nicht möglich ist. Heuristische Lösungen setzen kognitive Ressourcen frei, so dass sie für andere Anforderungen eingesetzt werden können. Der Preis für den Einsatz dieser leistungsfähigen Werkzeuge sind jedoch vorhersehbare Fehler, die mit jeder dieser Heuristiken verbundenen Verzerrungen widerspiegeln.
Fehler bei der Anwendung von Heuristiken werden als „kognitive Verzerrungen“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um Sammelbegriff für systematische fehlerhafte Neigungen beim Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Urteilen. Die Grafik gibt einen Überblick über die wichtigsten Heuristiken und die Kategorien, denen man fast alle kognitiven Verzerrungen (Urteilsfehler) zuordnen kann.


Die mit zu wenig Nachdruck gestellte Frage
In einer seiner Studien, in deren Rahmen Graber ärztliche Entscheidungen untersuchte, verglich er (zusammen mit Eta Berne) die Diagnosen von Patienten, die auf Intensivstationen gestorben sind, mit den Obduktionsbefunden. Im Rahmen der Studie sollten die Ärzte beim Stellen der Diagnose auf einer Skala von 0 bis 10 angeben, wie sicher sie sich bei der Diagnosestellung waren. Das Ergebnis: Kliniker, die sich ihrer Diagnose vollkommen sicher waren, irrten in 40% der Fälle [6]. Die Studie zeigt das Problem von heuristischen Entscheidungsprinzipien: Man kann und darf sich nicht darauf verlassen, dass man richtig liegt.
Das Buch trägt den Untertitel: „Patienten haben ein Recht auf Ärzte, die wissen, wie leicht man sich irren kann“. Dazu ein positives Beispiel: Eine 54jährige Patientin klagte über heftige Bauchschmerzen und hatte Fieber. Mit diesen Symptomen ging sie zu ihrem Hausarzt. Der war allerdings in Urlaub. Seine Vertretung stellte die Diagnose Gelbsucht. Einige Tage später erhielt die Patientin einen Anruf von ihrem Hausarzt, der inzwischen aus dem Urlaub zurück war. Er empfahl ihr die Konsultation eines Pankreasspezialisten, der tatsächlich ein Pankreaskarzinom im Frühstadium feststellte. Eine Woche später wurde sie operiert. Die Intervention des Hausarztes rettete ihr das Leben.
Betrachtet man die Entscheidung der Vertretung des Hausarztes etwas genauer, liegt die Vermutung nahe, dass die sogenannte Verfügbarkeitsheuristik im Spiel war (er hat einfach nicht an ein Pankreaskarzinom gedacht, weil Gelbsucht viel häufiger vorkommt). Sicherlich hat er sich die Frage gestellt, die sich alle Ärzte stellen sollten: Was könnte es sonst noch sein? Aber es gibt eine kognitive Verzerrung, die dazu führt, dass wir uns dieser Frage oft mit zu wenig Nachdruck stellen. Die Selbstbestätigungsfehler (Confirmation Bias) gehört zur Kategorie „kognitive Leichtigkeit“. Er beschreibt das Phänomen, dass wir dazu neigen, primär nach Informationen suchen, die unseren ersten Eindruck bestätigen und die Informationen zu ignorieren, die unserem Vorurteil entgegenstehen.
Das Problem dringt nur langsam in das Bewusstsein der Ärzteschaft.
Auch wenn an dieser Stelle nur die beiden Experten Berner und Graber zitiert werden, die Forschung zum Thema Entscheidungsprinzipien und Urteilsfehler im Zusammenhang mit Diagnosen ist sehr umfangreich. Die weitaus meisten Studien dazu kommen allerdings aus den USA. Dort sind Strategien zur Vermeidung von Urteilsfehlern in den meisten Kliniken längst präsent.
In Europa dringt das Problem jedoch nur sehr langsam in das Bewusstsein der Ärzteschaft. So schreibt z. B. das Deutsche Ärzteblatt über Reaktionen auf Veröffentlichungen über ärztliche Urteilsfehler [7]:
Als das British Medical Journal vor zehn Jahren über die US-Studie berichtete, führte dies nicht nur zu einem Artikel in der „Times“, sondern auch zu einem heftigen Protest des Royal College of Physicians. Inzwischen räumt die Ärzteorganisation ein, dass es ein Problem gibt. Ihr Präsident, George Alberti, sprach jetzt in einem Kommentar sogar von einem häufigen Problem, das gelöst werden müsse.
Eine Plattform für die Auseinandersetzung mit Fehlern im Umgang mit Patienten ist Cirs medical. Auf der Internetplattform von Cirs können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Gesundheitswesens konkrete Ereignisse veröffentlichen. Das Netzwerk legt Wert darauf, dass die Dokumente keinen Rückschluss auf Personen oder Institutionen zulassen.
Ziel ist es, Ärztinnen und Ärzten eine Möglichkeit zu geben, aus Fehlern zu lernen. Auch Sonja Hochmeister hat ihren Fall auf Cirs hochgeladen. Cirs Österreich, das für sie zuständige Netzwerk, hat lange gezögert, bevor der Fall endlich veröffentlicht wurde. Die Autoren haben zahlreiche Fälle auf Cirs medial analysiert. Die meisten zeigen Defizite in der Kommunikation und Organisation. Falsche Entscheidungen aufgrund von Urteilsfehlern sind auf der Plattform stark unterrepräsentiert. Die zögerliche Öffnung vieler Ärztinnen und Ärzte für das Problem ist einer der Gründe, warum sich die Autoren mit Ihrem Buch primär an die Patienten wenden.

Fazit
Im deutschsprachigen Raum gibt es kaum Studien über das Thema „Urteilsfehler in der Medizin“, und ebenso wenig findet man über Strategien zur deren Reduktion im Rahmen von Diagnosestellungen und Therapieempfehlungen. Diese Lücke kann durch das Buch kaum geschlossen werden. Aber es fasst das Wissen über das Thema in einem praktischen Ratgeber zusammen.
Es verbindet theoretisches Wissen über Entscheidungen und die darin lauernden Urteilsfehler mit konkreten Beispielen aus dem Alltag von Medizinerinnen und Medizinern.
Die Autoren

Prof. Dr. Sonja Hochmeister
ist Assoziierte Professorin für Neurologie der Medizinischen Universität Graz, Österreich, mit Additivfach neurologische Intensivmedizin.

Peter Jungblut
ist als freiberuflicher Debiasing-Berater tätig. Er entwickelt Konzepte für Kliniken, die dazu beitragen Urteilsfehler beim stellen von Diagnosen zu vermeiden.
Quellen
[1] Mane KK, Rubenstein KB, Nassery N, Sharp AL, Shamim EA, Sangha NS, Hassoon A, Fanai M, Wang Z, Newman-Toker DE. Diagnostic performance dashboards: tracking diagnostic errors using big data. BMJ Qual Saf. 2018 Jul;27(7):567-570. doi: 10.1136/bmjqs-2018-007945. Epub 2018 Mar 17. PMID: 29550767.
[2] Bajaj S., „Confirmation and Anchoring Biases in Medicine“, 2020, „Doctor in Progress“ https://doctorinprogress.com/2017/07/23/confirmation-and-anchoring-biases-in-medicine/
[3] Berner ES, Graber ML. Overconfidence as a cause of diagnostic error in medicine. Am J Med. 2008 May;121(5 Suppl):S2-23. doi: 10.1016/j.amjmed.2008.01.001. PMID: 18440350.
[4] Elstein, A. S., Schwarz, A. (2002). Clinical problem solving and diagnostic decision making: Selective review of the cognitive literature. BMJ: British Medical Journal, 324(7339), 729–732.
[5] Graber ML, Franklin N, Gordon R. (2005) Diagnostic error in internal medicine. Arch Intern Med; 165: 1493–9.
[6] Eta S. Berner / Mark L. Graber. „Overconfidence as a Cause of Diagnostic Error in Medicine“, American Journal of Medicine
[7] https://www.aerzteblatt.de/archiv/26957/Behandlungsqualitaet-Irren-ist-menschlich-und-aerztlich
