Kontrollillusion
(Rückseite Kalenderblatt Juli)
In diesem Kalenderblatt möchte ich Dir die amerikanische Psychologin Ellen Langer vorstellen. Sie gilt als Entdeckerin der Kontrollillusion. Sie wies nach, dass Menschen ihre Gewinnchancen beim Lotto höher einschätzen, wenn sie die Zahlen selbst auswählen können. Ebenso erforschte sie das Verhalten von Würfelspielern. Andere Forscher haben gezeigt, dass Menschen die Wartezeit an einer Ampel leichter ertragen, wenn sie einen Knopf drücken können, auch wenn das keinen Einfluss auf die Schaltung der Ampel hat. Nicht wenige Forscher verstehen die Kontrollillusion als Strategie, mit der Unsicherheit umzugehen, der wir in der Welt, in der wir leben, nun mal ausgesetzt sind. Unsicherheit ist für uns nur schwer zu ertragen. Da wir im Grunde aber ahnen, wie dünn das Eis ist, über das wir täglich laufen, erfinden wir allerhand merkwürdige Bewegungen, von denen wir glauben, dass sie das Brechen des Eises verhindern. Eines der bekanntesten Beispiele kommt aus der Welt des Profifußballs.
Im September 2015 erklärte Lucian Favre, der damalige Cheftrainer des Fußballvereins Borussia Mönchengladbach, seinen Rücktritt. Seine Mannschaft lag nach fünf sieglosen Spielen in Folge auf dem letzten Tabellenplatz. Bis ein
geeigneter Nachfolger gefunden wurde, sollte der Amateurtrainer André Schubert die Mannschaft übernehmen. Die Mannschaft gewann das erste Spiel, bei dem er als Trainer auf der Bank saß. Der neue Mann auf der Trainerbank trug
während des Spiels einen grünen Hoodie. Auch das zweite Spiel unter André Schubert wurde gewonnen. Wiedertrug der Trainer seinen grünen Hoodie. Am 4. Oktober titelte die Süddeutsche Zeitung anlässlich der Entscheidung des Vereins, Schubert einen Vertrag als Cheftrainer anzubieten: „Der grüne Hoodie bleibt“. Am 10. Dezember fragte die Bildzeitung: „Ist Gladbach etwa wegen der Kleider-Ordnung aus Europa geflogen?“ Schubert verzichtete in einem Spiel gegen Manchester City auf seinen grünen Hoodie und trug den in der Champions League empfohlenen Anzug. Seine Mannschaft verlor und flog aus dem Wettbewerb.
Die Geschichte von André Schubert und seinem grünen Pullover steht für ein Verhaltensmuster, das in den unterschiedlichsten
Facetten weit verbreitet ist. Dabei ist das Tragen bestimmter „glücksbringender“ Kleidungsstücke oder Accessoires noch die weitaus harmloseste Form. Wir finden sie bei Sportlern und deren Fans ebenso wie bei dem Manager, der bei seiner nächsten Präsentation wieder die Krawatte anzieht, die ihm schon beim letzten Pitch Glück gebracht hat.
Schon problematischer wird das Muster, das diesem Verhalten zugrunde liegt, wenn ein Patient glaubt, dass bestimmte Gedanken oder Gebete ihn wieder gesund machen. Dagegen ist grundsächlich gar nichts einzuwenden. Denn zweifellos ist Beten eine starke Energiequelle, und der feste Glaube, dass man eine Erkrankung überwindet, ist bestimmt nicht von Nachteil. Zum Problem kann es werden, wenn der Patient einen kausalen Zusammenhang zwischen
dem eigenen Verhalten und dem erwarteten oder – wie bei André Schubert – tatsächlich eingetretenen Effekt vermutet oder gar davon überzeugt ist und deshalb schulmedizinische Methoden ablehnt oder zu spät annimmt. Ein
prominenter Fall ist Tina Turner. Sie behandelte ihre Erkrankung lange mit homöopathischen Mitteln. Kurz vor ihrem Tod im Jahr 2023 setzte sie sich gegen Homöopathie ein. Sie war inzwischen zu der Überzeugung gekommen, dass ihr
Nierenversagen auf die Unwirksamkeit dieser Therapieform zurückzuführen war.
Die aus meiner Sicht interessanteste Studie zur Kontrollillusion wurde im Jahr 2003 von Mark Fenton-O’Creevy und Kollegen durchgeführt (1). Die britischen Psychologen untersuchten die Effekte der Kontrollillusion bei Brokern und
stellten einen Zusammenhang zwischen der Ausprägung dieses Urteilsfehlers und beruflichem Erfolg fest. Broker mit einer stärkeren Kontrollillusion schnitten u. a. beim Risikomanagement schlechter ab als die Vergleichsgruppe. Den
Grund dafür sehen die Autoren der Studie darin, dass die Mitglieder dieser Gruppe positive Ergebnisse auf ihre guten Entscheidungen zurückführten und Misserfolge den Rahmenbedingungen zuschrieben oder als vorübergehende
Abweichungen von der Norm interpretierten. Das eigentliche Problem dieser Bewertung waren allerdings weniger die Misserfolge als vielmehr die Tatsache, dass die Broker ihre Fehler nicht erkennen konnten / wollten und dementsprechend auch nicht rechtzeitig oder angemessen reagierten.
Bei nahezu allen Urteilsfehlern gibt es zwei Möglichkeiten: Wir können ihnen auf den Leim gehen oder wir können sie nutzen, um unsere Ziele zu erreichen. So kannst Du die Kontrollillusion z. B. anwenden, um Widerstände gegen
gewünschtes Handeln aus der Welt zu räumen. Fordere nicht direkt zum gewünschten Handeln auf (“putze Dir jetzt die Zähne”) sondern überlasse der Zielperson die Entscheidung, was sie zuerst tut (“willst Du erst Zähne putzen oder lieber erst Dein Zimmer aufräumen?”). Durch die Wahlmöglichkeit gibst Du anderen das Gefühl (schaffst Du die Illusion), die Dinge steuern zu können.
*Einer der Fans von Tina Turner war Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. In einem Tweed verneigte er sich anlässlich ihres Todes vor Tina Turner und dankte ihr auch für ihren Kampf gegen Homöopathie. Die Folge
war ein Shitstorm mit den üblichen üblen Beschimpfungen. Was Karl Lauterbach in diesem Moment erlebte, ist die Auswirkung des Confirmation Bias – der Selbstbestätigung. Ich gehe darauf im Kalenderblatt August näher ein.
(1) Fenton O’Creevy, M., Nicholson, N., Soane, E., Willman, P.: „Trading on illusions: Unrealistic perceptions of control and trading performance“. Journal of Occupational and Organisational Psychology