Quantifiziere Dein Denken.

(Rückseite Kalenderblatt April)


Kürzlich hatte ich starke Schmerzen im unteren Rücken. Ich ging zu meinem Hausarzt. Nach wenigen Minuten sagte er, ich hätte eine Hüftgelenksarthrose und müsse wahrscheinlich operiert werden. Wie würdest Du auf diese „Diagnose“ reagieren? Ich habe meinen Arzt gebeten, zu quantifizieren, was er mit „wahrscheinlich“ meinte. Er tat sich zunächst schwer, gab dann aber den Wert 60% an. Die Übersetzung eines umgangssprachlichen Begriffs in einen numerischen Wert ist ein Akt des langsamen Denkens. Welche Energie und Überwindung das kostet, hat man meinem Arzt deutlich angemerkt.

Im Rahmen meiner Workshops mit Ärzten bitte ich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer immer wieder zu definieren, was sie meinen, wenn sie sagen „wahrscheinlich“. Ich bin jedes Mal erstaunt, wie unterschiedlich sie das Wort nutzen.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Liv Boeree. Sie hat eine Umfrage auf Twitter durchgeführt. Die Grafik zeigt das Ergebnis. Sprache ist unscharf. Und das ist auch gut so. Denn in dieser Unschärfe liegt ihr kreatives Potenzial.

Weniger hilfreich und sogar kontraproduktiv ist diese Unschärfe, wenn es um die gedankliche Vorbereitung von Entscheidungen geht. Ein Bereich, wo vieles davon abhängt, in kurzer Zeit die richtigen Entscheidungen zu treffen, ist das professionelle Pokerspiel.

Die Engländerin Liv Boeree gilt als eine der erfolgreichsten Pokerspielerinnen. Laut Boeree geht es beim Pokern vor allem um Wahrscheinlichkeiten und Präzision. Man verliert viel Geld, wenn man sich beispielsweise mit dem Gedanken “der blufft wahrscheinlich” zufrieden gibt und auf dieser Basis eine Entscheidung trifft. Deshalb hat sie sich antrainiert, beim Pokern und im Alltag das Wort “wahrscheinlich” durch ihre bestmögliche numerische Einschätzung zu ersetzten. Ihr Video dazu ist sehr zu empfehlen [1].

Natürlich lässt sich kein Patient operieren, nur weil ein Arzt sagt, er müsse wahrscheinlich operiert werden. Dennoch hat eine solche Aussage Implikationen – zumindest auf die Gefühlswelt der Betroffenen. Um Wahrscheinlichkeiten geht es in der Medizin aber auch, nach fundierten Diagnosen, etwas mithilfe von bildgebenden Verfahren. In einer Studie von BMJ Quality & Safety wurde geschätzt, dass jedes Jahr über zwölf Millionen Amerikaner von ihren Ärzten falsch diagnostiziert werden [2]. Etwa zwei Drittel dieser falschen Diagnosen gehen auf unscharfes Denken und den lässigen Umgang mit Wahrscheinlichkeiten zurück. Eine Studie, die dieses Problem beleuchtet stammt von den amerikanischen Ärzten Eta S. Berner und Mark L. Graber [3]. Dabei verglichen sie die Diagnosen von Patienten, die auf Intensivstationen gestorben waren, mit den Obduktionsbefunden und evaluierten zusätzlich das Ausmaß der Urteilssicherheit der Ärzte, die die Diagnose gestellt hatten. Das Ergebnis: Kliniker, die sich ihrer Diagnose vollkommen sicher waren, irrten in 40% der Fälle! Übrigens war auch die Diagnose meines Arztes falsch, obwohl er 100% sicher war, die Symptome meiner „Hüftgelenksarthrose“ entpuppten sich am Ende als Bandscheibenvorfall.

Auch bei unseren Alltagsentscheidungen können wir von „Diagnosen“ sprechen. Ob Du dich für einen neuen Arbeitgeber, eine neue Wohnung oder für ein neues Hobby entscheiden willst, Basis ist immer die Bewertung von Informationen – nichts anderes ist eine Diagnose. Typisch für jede Entscheidung ist, dass sie unter Unsicherheit stattfindet. Du kannst niemals sicher sein, dass Du über alle relevanten Informationen verfügst, und Du kannst nicht sicher sein, ob Du mit Deiner Entscheidung das gewünschte Ergebnis erreichst – selbst, wenn Du bei Grün die Straße überquerst..

Deshalb: frage Dich bei wichtigen Entscheidungen:

  • Mit welcher Wahrscheinlichkeit ist Option A oder B richtig?
  • Mit welcher Wahrscheinlichkeit verfüge ich über alle relevanten Informationen, bzw. sind meine Infos richtig?
  • Wie groß ist tatsächlich der Vorteil einer Option im Vergleich (auch zum Status Quo)?

[1]https://www.ted.com/talks/liv_boeree_3_lessons_on_decision_making_from_a_poker_champion
[2]Bajaj S., „Confirmation and Anchoring Biases in Medicine“, 2020, „Doctor in Progress“ https://doctorinprogress.com/2017/07/23/confirmation-and-anchoring-biases-in-medicine/
[3]Eta S. Berner, Mark L. Graber. „Overconfidence as a Cause of Diagnostic Error in Medicine“, American Journal of Medicine 121 (2008): S. 2 – 23zurückschickten